Biennale-Vertreterin Jermolaewa: "Schwanensee" als Code des Umbruchs

Atelierbesuch zwischen Münztelefonen aus der Sowjetzeit und Fotos von Ballettproben – "Mein Wunschdenken ist, dass man mit Kunst etwas erreichen kann" – Wenig Eingriffe im Venedig-Pavillon

Es ist kein hippes Loft in einem schicken Künstlerviertel, wo Österreichs Vertreterin bei der Kunstbiennale in Venedig 2024 ihren Auftritt vorbereitet. Das Fabriksareal in Wien-Simmering, in dem Anna Jermolaewa seit zwei Jahren ihr Atelier hat, liegt direkt an der Südosttangente und hat eindeutig bessere Zeiten gesehen. Doch wer am Lager eines Händlers mit traditionellen Lebensmitteln aus dem Nahen Osten vorbei zu ihren Arbeitsräumen gefunden hat, betritt eine andere Welt.

Wobei: So anders ist sie gar nicht. Märkte zählen zu jenen Dingen, die seit vielen Jahren einen der Fixpunkte im Interessenskatalog der in Leningrad (UdSSR) geborenen und seit 1989 in Wien lebenden Künstlerin bilden. Davon zeugt etwa ihre noch bis 1. April laufende Ausstellung im Museum der Moderne in Salzburg, die Fotos ihrer Serie „Markets“ ebenso zeigt wie ihre Videoarbeit „back to the silk routes“, bei der sie 2010 in die Heimat von Wiener Flohmarkt-Händlern gefahren ist, um ihnen Wünsche zu erfüllen. Diese Arbeit zählt Jermolaewa zu ihren gelungensten.

„Was kaum jemand weiß: Eine der größten Diasporas bucharischer Juden aus Usbekistan ist in Wien. Viele von ihnen haben hier Stände am Flohmarkt. Ich habe ihnen gesagt: Ich fahre für euch nach Samarkand und erfülle euch jeden Wunsch. Als ich fuhr, hatte ich eine lange Liste mit Aufgaben, vom Besuch des jüdischen Friedhofs oder des ehemaligen Wohnhauses bis zu Dingen, die ich mitbringen sollte. Ich habe diese Liste abgearbeitet und ein Video daraus gemacht. Das hab ich bei Dr. Falafel auf der Großleinwand gezeigt. Die Leute waren ergriffen und haben geweint“, erzählt Jermolaewa beim Atelierbesuch der APA.

„Mein Wunschdenken ist, dass man mit Kunst etwas erreichen kann“, sagt sie. Deswegen ist der in einem früheren Atelier bei einer von ihr veranstalteten Single-Party organisierte Orangentanz, den sie als Video 2022 bei ihrer großen Werkschau im Linzer Schlossmuseum gezeigt hat, einer ihrer absoluten Lieblinge: Aus der Party resultierten etliche Affären und manche langlebigere Beziehung. Diese Paare seien ihre eigentliche künstlerische Arbeit, das Video bloß Dokumentation, grinst sie. Sie teile die Auffassung des deutschen Konzeptkünstlers Hans Haacke, wonach an sich jede Kunst politisch sei, es aber auch Kunst gebe, die politisch engagiert sei und in die Gesellschaft einzugreifen versuche. Wer Jermolaewas Arbeiten kennt, weiß, wo die Künstlerin steht. Nicht nur biografisch scheint sie daher ideal in das Generalthema der Kunstbiennale 2024 zu passen: „Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere“.

„Das Erstaunliche ist: Als wir von einer Jury unter 37 Bewerbungen ausgesucht wurden, war dieses Thema noch gar nicht bekannt“, sagt die Kuratorin Gabriele Spindler. Sie war auch schon für die große Jermolaewa-Schau im Schlossmuseum Linz zuständig, deren Raummodell im Atelier aufgestellt ist. Nach einem Modell des Hoffmann-Pavillons auf dem Biennale-Gelände sucht man vergeblich. Viel Konkretes will das Duo ohnedies noch nicht verraten. Es werde aber wenig Eingriffe in den originalen Raum geben. „Es ist eine tolle Architektur – sie ist nur nicht einfach zu bespielen“, meint Spindler und verspricht „einen sehr logischen Rundgang, der einen Roten Faden hat“. Gezeigt werden Videos, Installationen, Leuchtobjekte, aber auch Sounds und performative Elemente sind einbezogen.

Auf einem Arbeitstisch ist eine Vielzahl von Fotos von Ballettproben ausgebreitet. „Rehearsal for Swan Lake“ wird Jermolaewas zentrale Arbeit für Venedig heißen. Sie ist der Beweis, dass die Künstlerin ihre Lähmung nach dem russischen Überfall auf die Ukraine überwunden hat. „Ich hatte das Gefühl, dass Kunst jede Relevanz verloren hat. Ich hatte kein Bedürfnis mehr, Kunst zu machen. Ich wollte nur noch den Menschen direkt helfen.“ Die Künstlerin, die als Mitbegründerin der ersten Oppositionspartei und Mitherausgeberin einer regierungskritischen Zeitung aus der Sowjetunion flüchtete und in Österreich politisches Asyl erhielt, hat viele Freunde und Verwandte in der Ukraine. Für „Rehearsal for Swan Lake“ arbeitet sie mit der ukrainischen Balletttänzerin und Choreografin Oksana Serheieva zusammen, die in Tscherkassy eine Ballettschule leitete und 2022 mit ihrer Familie nach Österreich flüchtete.

Umfangreiches Videomaterial entstand bei den Proben in einem angemieteten Ballettstudio in Wien und wartet auf den Schnitt. Was daraus in Venedig zu sehen sein wird, soll „wie ein Code“ wirken, den jeder, der die Sowjetzeit miterlebt hat, sofort dechiffrieren kann, erklärt Anna Jermolaewa: „Das ist Teil eines kollektiven kulturellen Gedächtnisses: Wenn Tschaikowskys ‚Schwanensee‘ im Loop im sowjetische Fernsehen zu sehen war, wussten alle: Jetzt ist etwas Bedeutendes im Gange.“ Das sei beim Tod von Parteiführern wie Breschnew oder Andropow ebenso der Fall gewesen wie 1991 beim Augustputsch in Moskau. Heute „Schwanensee“ zu proben heiße also, sich für den Tag X bereit machen, der den nächsten Umbruch bedeute: weg von Putin. „Ich hoffe, wir können schon 2024 ‚Schwanensee‘ tanzen!“

Wie begründet diese Hoffnung sei, lasse sich schwer einschätzen, gibt die Künstlerin zu. Sie habe auch nicht mehr so viele Kontakte nach Russland wie früher. Die dortige Kunstszene habe sich radikal gewandelt. Viele Leitungen von Institutionen seien ausgetauscht worden, viele Kunstschaffende seien geflüchtet. Doch Optimismus sei allemal besser als Fatalismus. Anna Jermolaewa hofft, den längeren Atem zu haben. Dann werde es vielleicht einmal auch möglich sein, Langzeitarbeiten wie ihren 1996 begonnenen „Fünfjahresplan“, bei dem sie in Abstand von fünf Jahren die gleiche Rolltreppe in der St. Petersburger U-Bahn filmt, oder ihre 2014 begonnene „Chernobyl Safari“, bei der sie in der Sperrzone mit Wildtierkameras Aufnahmen macht, fortzusetzen.

Nach der Biennale wird sie in ein neues Atelier übersiedeln. Dieses liegt zwischen Wien und Linz, wo sie seit 2019 Professorin für Experimentelle Gestaltung an der Kunstuniversität ist. Dann kommen auch die sechs Münzfernsprecher aus der Sowjetzeit mit, die sie in Tallinn bei einem Antiquitätenhändler entdeckte und die nun darauf warten, Teil einer Installation zu werden. Wie diese aussehen werde, könne sie noch nicht sagen, doch ein Gedanke lasse sie nicht los, erklärt sie lächelnd: „Im Film ‚Matrix‘ sind Telefonzellen die einzigen Orte, an denen man die Matrix verlassen kann …“

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E – 60. Biennale Venedig, 20. April bis 24. November 2024; https://biennalearte.at/de/)

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