Nichts an Sprengkraft verloren: Kusejs „Faust“ an der Burg
Fünf Jahre können einer Inszenierung durchaus zusetzen. Andere Zeiten, andere Fragen, andere Probleme. Doch Martin Kusejs „Faust“-Deutung, die der neue Burgtheaterdirektor am Münchner Residenztheater 2014 auf die Bühne brachte, hat seitdem nichts an Sprengkraft verloren. Radikal umgestellt, explosiv in der Ausführung und mit tollem Ensemble – die Wien-Premiere am Freitagabend wusste zu begeistern.
Vieles, was damals über diesen Faust gesagt wurde, gilt natürlich noch heute: Werner Wölbern muss sich keine Sekunde damit aufhalten, Goethes grüblerischen Professor zu geben. Die nötige Fallhöhe vor dem Pakt mit dem Teufel, wer braucht das schon, dürfte sich Kusej mit seinen Dramaturgen Angela Obst und Albert Ostermaier gedacht haben. Stattdessen führen sie eine Figur ein, die in ihrer Gier nur zu heutig wirkt. Als Verführter muss Faust nicht erst groß verführt werden.
So irrlichtert er zunächst durch die karge Industrie- und Clublandschaft, die dank Aleksandar Denics äußerst klug zusammengestellter Drehbühne nicht nur bei den Protagonisten ein Schwindelgefühl erzeugt. Begierde, Lust, Rausch, Gewalt, Feuer – es ist wahrlich ein Inferno, das losgelassen wird. Und doch scheint alles zu verstummen, wenn Mephisto in Erscheinung tritt: Bibiana Beglau, meist im schwarzen Hosenanzug, aber gerne auch ihren von offenen Wunden übersäten Rücken entblößend, ist unbestritten das Kraftzentrum dieser Aufführung, mal mit feinen Worten schmeichelnd, dann ganz ungestüme Kraft.
Man tut gut daran, sich fallen zu lassen, gibt die zunächst sehr lose Szenenfolge, die sich bei beiden Teilen von Goethes Werk bedient, nur wenige Anhaltspunkte und verweigert eine stringente Interpretation. Irgendwie erinnert das auch an Quentin Tarantinos episodenhafte Gewaltexzesse, die der Hollywoodregisseur gern in ruhige Tableaus setzt. An Blut herrscht nämlich auch im Burgtheater bald kein Mangel, nachdem in der ersten Hälfte orgastische Züge dominieren, um zum Schluss hin in Massenerschießungen und Bombenanschläge zu kippen.
Zu diesem Zeitpunkt ist auch die Gretchen-Tragödie beinahe schon vorbei: Es ist Andrea Wenzl beschieden, die anfangs hell strahlende Unschuld in all der Dunkelheit und dem Schmutz zu geben. Schnell wird klar, dass sie dem Gespann aus Zuhälter Mephisto und willigem Freier Faust nichts entgegenzusetzen hat. Dieser sehr klar erzählte Abschnitt erzeugt ungemeine Sogwirkung und bietet quasi einen Gegenpol zum anarchischen Rest. Im Ende bleibt Kusej aber konsequent, auch Gretchens Untergang findet eine blutige Entsprechung.
Man muss sie schon mögen, diese überzogene, radikale Herangehensweise an den Klassiker. In jedem Fall wird sie aber zur Bühne für viele tolle Bilder, spannungsgeladene Szenen und reichlich Schauspielglanz. Marie-Luise Stockinger gibt eine herrlich überdrehte Hexe, die Mephistos Intimbereich bearbeitet, während Alexandra Henkel als Frau Marthe sogar für den Teufel ein bisschen „too much“ ist. Wölbern taumelt als Faust sehenden Auges dem Untergang entgegen, und Beglau muss man einfach nur bewundern. Das von ihr personifizierte Böse strahlt ungebrochene Anziehungskraft aus.
Entsprechend groß war der Jubel am Ende des dreistündigen Abends (eine Pause), wobei man den Darstellern die Strapazen durchaus anmerkte. Nach wie vor zwiespältig wurde hingegen Kusejs Regie aufgenommen, mischten sich doch einige Buhs in den lautstarken Applaus. Sein „Faust“ ist jedenfalls nichts für schwache Nerven.
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