Kanada erinnert an die „Titanic“

Vor 100 Jahren versank die „RMS Titanic“. Noch heute bewegt die Schifffahrtskatastrophe viele Menschen in Neufundland und Halifax. Sie planen Gedenkfeiern und bieten Tauchexpeditionen zum Wrack an. Doch teilweise treibt der „Titanic“-Rummel auch skurrile Blüten.

Der Atlantik bricht sich schäumend an den Felsen unterhalb des Signal Hills, des Hausbergs von St. John’s. Auf dieser Erhebung empfing der Italiener Guglielmo Marconi 1901 ein Morsesignal, das es von Cornwall in Südengland über den Ozean bis nach Neufundland geschafft hatte. Das Experiment war ein Meilenstein in der drahtlosen Kommunikation.

Gut zehn Jahre nach der Pioniertat wurde die Technologie bereits zur Kommunikation unter Schiffen angewendet. An Land entstanden vielerorts Marconi-Funkstationen. So auch am äußersten Zipfel der Halbinsel Avalon im Osten Neufundlands, am Cape Race, wo am frühen Morgen des 15. April 1912 eine Morsebotschaft einging: „CQD MYG“. Es war das erste Notsignal der „Titanic“, das an Land empfangen und beantwortet wurde. Zu der Zeit trieb der damals als unsinkbar geltende Ozeanriese bereits mit Schieflage knapp 600 Kilometer vor der Küste Neufundlands im eisigen Atlantik. Kurz zuvor, am Vortag um 23.40 Uhr, hatte er einen Eisberg gerammt.

„Von Cape Race aus verbreitete sich die Botschaft in alle Welt“, sagt David Myrick. Der kleine Mann mit den funkelnden Augen, 73 Jahre alt, erzählt von damals. Er kennt die Ereignisse der Schicksalsnacht genauer als viele. Sein Großonkel James war vor 100 Jahren in der Marconi-Station am Kap vor Ort. „Ein Kollege war der diensthabende Funker in dieser Nacht. Für einen Moment, er brauchte eine Pause oder musste auf Toilette, verließ dieser das Gebäude. So saß James allein vor dem Empfänger. Dann kam der Notruf. James stürzte raus, und die Dinge nahmen ihren Lauf.“

In einem Moment der Geschichtsvergessenheit wurde die Marconi-Station auf Cape Race in den 1960er Jahren mit Bulldozern dem Erdboden gleich gemacht. David Myrick schüttelt den Kopf: „Das Einzige, was uns geblieben ist, ist dieser alte Marconi-Schriftzug.“ Heute ist das Chrom-Emblem Teil einer Ausstellung in der wieder aufgebauten Station.

Wenn sich der Untergang am 15. April zum 100. Mal jährt, plant Myrick eine große Gedenkfeier. Leihweise herangeschafft werden soll die „Titanic“-Ausstellung des Johnson Geo Center am Signal Hill in St. John’s. In dem Haus ist zu seichter Musik aus James Camerons Spielfilm „Titanic“ die Geschichte des einst größten Schiffs der Welt mit Fotografien, Dokumenten, Kopien von Zeitungsausschnitten und Film-Requisiten minutiös nachgezeichnet.

Die Organisatoren haben bereits sämtliche Hotelzimmer der Gegend reserviert und rechnen mit einem Massenauflauf an der sonst so einsamen Steilküste – und mit Eisbergen, die jedes Jahr ab April die berühmte Iceberg Alley im Labradorstrom an Neufundland hinabtreiben.

„Bei der Gedenkfeier wollen wir für alle hörbar den Funkverkehr zwischen der ‚Titanic‘ und Cape Race nachstellen“, sagt David Myrick, der dabei die Hauptrolle spielen wird. Der ehemalige Funker will mit einem Schiff bis zu dem Punkt rausfahren, wo die „Titanic“ unterging und von dort aus die Morsetaste bedienen.

Aber es wird auch andere Gelegenheiten geben, der „Titanic“ nahe zu sein in dieser Nacht. Zum Beispiel an Bord des Kreuzfahrtschiffes „Balmoral“. Während einer längst ausverkauften Charterfahrt entlang der Unglücksroute, genannt „Titanic Memorial Cruise“, steuert das Schiff der Fred. Olsen Line die gleiche Position wie Funker Myrick an und wird sich dann knapp vier Kilometer über dem Wrack befinden. Gebucht haben 1.309 Passagiere, exakt so viele, wie an Bord des einstigen Vorzeigeschiffs der White Star Line waren. Teils haben sie sich zeitgenössische Kleidung nachschneidern lassen. Nach zwölf Nächten auf See will man New York erreichen, den eigentlichen „Titanic“-Zielhafen.

Später im Jahr dürfen weitaus zahlungskräftigere Kunden sogar das Wrack der „Titanic“ besuchen – bei Tauchexpeditionen zum Preis von mehr als 44.000 Euro pro Person. „Das ist eine überwältigende Erfahrung. Nichts und niemand kann einen darauf vorbereiten, wie riesig das Schiff ist – es ist unermesslich“, begeistert sich Expeditionsleiter Rob McCallum, der schon einmal die Überreste des einst 269 Meter langen Dampfers in 3.750 Meter Tiefe aufgesucht hat.

Zum vorerst letzten Mal plant der Veranstalter Deep Ocean Expeditions den Trip in die ewige Dunkelheit an vier Terminen im Juli und August. Zwölf Tage dauert der ungewöhnliche Ausflug mit einem Expeditionsschiff. Höhepunkt ist der Tauchgang in einer kleinen Kapsel. „Zwei Stunden dauert das Abtauchen, fünf bis sieben Stunden bleiben wir unten“, erläutert McCallum die nüchternen Eckdaten.

Am Meeresboden angekommen erleuchten die Scheinwerfer der Tauchkapsel den Bug der „Titanic“. Das Unterwassergefährt surrt weiter bis zur Brücke, wo einst Captain Smith die Befehle gab, taucht dann das einstige Promenadendeck in einen Lichtkegel und arbeitet sich durch das Trümmerfeld bis zum Heck vor.

Besucher, die das Expeditionsschiff im großen Naturhafen von St. John’s nicht entern, gehen in der Stadt auf „Titanic“-Spurensuche. St. John’s gilt als älteste Stadt Nordamerikas und ist an sich schon reizvoll. Die hölzernen Fischerhäuser des Battery-Viertels säumen an steilen Hängen den Eingang der großen Bucht. „Titanic“-Freunde aber zieht es zur Ryan Mansion, einer noblen Herberge.

Von der Eingangshalle führt eine opulente Holztreppe in die oberen Gemächer – sie ist der Stolz der Betreiber Robert Hall and Kevin Nolan. Die Treppe sei von denselben Kunsthandwerkern gefertigt worden wie einst der große Hauptaufgang in der „Titanic“. Der reiche Fischhändler James Ryan hatte sich die Villa zwischen 1909 und 1911 errichten lassen. Auf einem seiner Schiffe soll die Treppe nach Neufundland transportiert worden sein.

Die letzte Nacht auf der „Titanic“ spielen die Betreiber der „Ryan Mansion“ regelmäßig nach – in kulinarischer Hinsicht. Für größere Gruppen bereitet Chefkoch Stephan O’Brien eine Auswahl aus dem 14-Gänge-Menü zu, das Passagiere der ersten Klasse am Abend des 14. April 1912 an Bord der „Titanic“ serviert bekamen, bevor auch Teller und Tassen mit dem Ozeanriesen in die Tiefe gerissen wurden.

Auch ein paar hundert Kilometer Luftlinie von St. John’s entfernt, in Halifax, dreht sich alles um die „Titanic“. Touristenführer Glenn Taylor erzählt dramatische Geschichten von den letzten Stunden der Menschen, die mit der „Titanic“ im Meer versunken sind. „Hier auf den Friedhöfen in Halifax sind wir näher dran an der „Titanic“-Katastrophe als irgendwo anderes“, sagt Taylor zwischen den 121 Grabsteinen der Opfer auf dem Fairview Lawn Cemetery in Halifax. Besuchern aus aller Welt kommen die Tränen, wenn Taylor die tragische Vergangenheit der rund 1500 Toten wieder zum Leben erweckt.

Halifax an der Ostküste Kanadas in der Provinz Nova Scotia war zur Unglücksstelle der nächstgelegene größere Hafen mit guter Ausrüstung. Von hier sind die Schiffe ausgelaufen, um die Leichen auf hoher See zu bergen. 150 Passagiere und Besatzungsmitglieder der „Titanic“ sind in Halifax auf drei Friedhöfen begraben. Nun begeht Halifax das 100. Jahr nach dem weltberühmten Untergang unter anderem mit einem Filmfestival, speziellen Führungen in der Stadt, Konzerten und einer Expertentagung.

Der „Titanic“-Rummel treibt bisweilen allerdings auch seltsame Blüten und das tragische Ende des Ozeanriesen scheint bis heute eine unglaubliche Faszination auf viele Menschen auszuüben. Eine Theaterproduktion wirbt damit, zu den Vorstellungen ihres „Titanic“-Stückes ein Abendessen zu servieren, das dem letzten Menü an Bord des Luxusliners nachempfunden ist – getrennt nach 1., 2. und 3. Klasse. Wobei die Speisung für Gäste dritter Klasse mit Gemüsesuppe, Irish Stew und Milchreis verglichen mit der Verpflegung für die anderen Passagiere entsprechend einfach ausfällt.

Für Besucher aus aller Welt ist außerdem schon jetzt die „Titanic“-Ausstellung im „Maritime Museum of the Atlantic“ eine gute Anlaufstelle. Dort ist unter anderem ein Liegestuhl zu sehen, der früher auf dem Deck des Schiffs stand. Ein Film zeigt Aufnahmen von Tauchexpeditionen zum Wrack. Museumsmanager John Hennigar Shun erhofft sich durch den 100. Jahrestag des Schiffsunglücks einen ähnlichen Boom wie nach dem „Titanic“-Film mit Leonardo DiCaprio. Damals hatte sich die Besucherzahl auf 250.000 pro Jahr mehr als verdoppelt. Shun erklärt sich die „Titanic“-Faszination nach fast einem Jahrhundert auf seine Art: „Die „Titanic“-Katastrophe erinnert die Leute an ihre eigene Sterblichkeit und die menschliche Arroganz.“

INFO: „Titanic“-Tauchgänge: http://www.deepoceanexpeditions.com; „Titanic“-Gedenkfeier: http://receivingtitanic.com; Gedenk-Kreuzfahrt: http://www.titanicmemorialcruise.co.uk; Signal Hill Historic Site: http://www.pc.gc.ca/signalhill; Cape Race: http://www.edgeofavalon.ca/caperace.html; Titanic Tour: http://www.ambassatours.com/titanic; Informationen zum Titanic-Jahr 2012: http://www.titanic100.ca; Titanic Theatre&Dinner: http://titanicdinnertheatre.com/menu/; Tourismuszentrale Halifax: http://www.destinationhalifax.com

Klima: Neufundland hat vier Jahreszeiten, beste Reisezeit ist der Sommer. Auch im Frühling kann es schon mild sein. Im Winter pendeln die Temperaturen zwischen 0 und manchmal minus 50 Grad Celsius.

(APA/dpa)

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