Nuller-Jahre brachten digitale Kulturrevolution

Die Tonträger-Branche zählt zweifelsohne zu den großen Verlierern dieser Dekade. 1999 wurde inflationsbereinigt der weltweite Höchst-Umsatz mit Musiktonträgern gemacht. Doch die Manager der großen Labels werden sich keineswegs gerne an dieses Jahr erinnern: Denn im Juni 1999 ging die Musiktauschbörse Napster ans Netz. Und mit dieser ersten Plattform, auf der Musikdateien kostenfrei getauscht werden konnten, setzte das illegale Downloaden von Musik ein, das mit dem Ausbau von Breitband-Anschlüssen und neuen Plattformen immer mehr Nutzer fand. Bis 2006 war der Tonträger-Markt (an 1999 gemessen) um bereits 45 Prozent geschrumpft, und es ging Jahr für Jahr weiter nach unten.

Und zum Schaden ließ auch der Spott nicht lange auf sich warten: Sichtlich überfordert, reagierte die Musikbranche mit einer Mischung aus übelgelaunten Gerichtsprozessen gegen Uploader – in der öffentlichen Wahrnehmung blieben überzogene Geldforderungen gegen Teenager, unbedarfte Eltern oder überforderte Alleinerzieherinnen. Auch die ersten Versuche, mit halbherzigen Online-Modellen und (Stichwort Sonys „Rootkit“) umstrittenem und großteils unwirksamem Kopierschutz wieder Fuß zu fassen, waren recht ungelenk.

Man braucht nur Metallica-Drummer Lars Ulrich fragen, der es sich mit ziemlich vielen Fans verscherzt hat, indem er Raubkopierer anmotzte: Dies alles sorgte für eine gewisse Entfremdung zwischen Musikindustrie und nicht wenigen Konsumenten. Auch die Begehrlichkeiten mancher Lobby-Organisationen in Hinblick auf Online-Überwachung machen die Branche bei vielen nicht unbedingt beliebter: So sollen u.a. die Provider ihre Kunden auf etwaige Urheberrechtsverletzungen hin überwachen. Das gilt vielen als Einfallstor für die weitergehende Einschränkung der Freiheiten im Internet.

Ein Gegenmittel zum Kauffrust bei der Popmusik kam aus einer unerwarteten Ecke. Es brauchte einen branchenfremden Hersteller wie Apple, um die Popmusik zu dem zu machen, was sie heute für viele ist: ein Kaufanreiz für Hardware. Riesige Festplattenkapazitäten in schicken Musik-Playern im Taschenformat fütterten den Drang danach, möglichst viel Musik zu besitzen, zuerst über iTunes als legale Plattform. Statt aber für den Erwerb von Dutzenden Gigabyte Musik einen Kredit aufzunehmen, entschieden sich immer mehr Menschen für den kostenfreien Download über Tauschnetzwerke. Musik-Abos nach dem All-inclusive-Prinzip, bei denen man gegen eine monatliche Fixgebühr beliebig viel Musik herunterladen darf, sollen dem entgegensteuern.

Doch bisher können die digitalen Verkäufe die Verluste nicht annähernd wettmachen, die die Tonträgerbranche durch die einbrechenden CD-Verkäufe erlitten hat. Nach neuen Geschäftsmodellen wird heftig gesucht, und Live-Konzerte zählen dabei ebenso zu den Hoffnungsträgern wie Merchandising und Musik-DVDs. Denn weder das Konzerterlebnis noch bedruckte T-Shirts kann man online kopieren.

Doch überraschender als die Entscheidung vieler Konsumenten, für popkulturelle Unterhaltung lieber nichts zu bezahlen, ist der Umstand, dass hochpolierte Produkte von Hollywood, Bezahl-Fernsehen und Musiklabels unerwartete Online-Konkurrenz bekommen haben: die sogenannte Amateur-Revolution. Mit Gratis-Programmen erstellt und rasch online gestellt, haben manche selbst gebastelte Videos u.a. auf der Video-Plattform YouTube Hunderttausende Zugriffe, Blogs machen den Medien das Leben schwer, und Musik kann man auf jedem Laptop aufnehmen.

Die Qualität muss dabei nicht perfekt sein – das neue Credo lautete: „Gut genug“ muss es sein. Und derartige selbst gestrickte Kulturprodukte brauchen keine finanzmächtigen Marketingmaßnahmen, um sich zu verbreiten: Originelle Filmchen verschafften etwa „Star Wars Kid“, „lonelygirl15“ oder niesenden Panda-Babys sonst unerreichbare Popularität und verbreiten sich, viralem Marketing sei dank, rasant auf sozialen Websites, ganz ohne Werbung zu brauchen.

Die Musik war von der digitalen Revolution zwar als erste betroffen, doch steht sie längst keineswegs mehr alleine da. Neue Hollywood-Filme sind oft schon vor dem Kinostart zum illegalen Download bereit, auch TV-Serien sind spätestens nach der ersten Ausstrahlung abrufbar. Das Warten auf DVDs, die in Österreich erst lange nach dem US-TV-Einsatz erscheinen, hat für viele ein Ende.

Als letzte große Bastion, die sich gegen die Digitalisierung verwehrt, führen derzeit viele Literaturverlage einen Abwehrkampf gegen das E-Book: Die Verlage fürchten, durch Raubkopien elektronisch verfügbarer Bücher in denselben Abwärtsstrudel zu geraten wie die Tonträger-Industrie. Auch der Versuch einer unfreundlichen Übernahme der Weltliteratur durch die vehementen Digitalisierungs-Anstrengungen des US-Suchmaschinenkonzerns Google hat dieser Skepsis neues Argumentationsfutter gegeben. Google hat beim Einscannen von Millionen Werken der Weltliteratur nach Ansicht einiger das Urheberrecht, jedenfalls aber die Befindlichkeiten von Autoren, Verlagen und europäischer Kulturpolitik missachtet und dafür heuer im großflächig abgelehnten „Google Book Settlement“ einen deutlichen Dämpfer kassiert. Im Gegensatz zu Pop und Film stößt die digitale Revolution beim guten alten Buch aber auch auf Widerstand des Konsumenten: Für viele ist es immer noch unvorstellbar, das Papierbuch zugunsten eines weiteren elektronischen Geräts aufzugeben.

Zwar ist das Urheberrecht durch die öffentliche Diskussion vielen erstmals ins Bewusstsein gerückt. Von dort wurde es aber rasch wieder beiseitegeschoben: Im kommenden Jahrzehnt wird sich die Popkultur gute Argumente überlegen müssen, um ihre Produkte verkaufen zu können. Viele Konsumenten streiten mit fast heiligem Eifer für ihr Recht, teuer erstellte Musik- oder Film-Produktionen gratis konsumieren zu dürfen. Bands wie Radiohead oder die Nine Inch Nails haben mit verschenkter Musik finanzielle Einmal-Erfolge erzielt. Doch ein nachhaltiges Vermarktungskonzept wurde in der ersten Dekade des digitalen Kulturkonsums nicht gefunden.

(APA)

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